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ARCHIV 2006 - Februar 2014
Ganzheitliche Schulen in Finnland: Wie sie wurden, was sie sind.
Rainer Domisch

 

Sehr geehrte Damen und Herren, liebe Kolleginnen und Kollegen,
lassen Sie mich zunächst die besten Grüße des finnischen Zentralamtes in Helsinki überbringen. Wir hatten gestern Nachmittag eine Sitzung mit 150 KollegInnen im Haus, die die Strategie der nächsten 10 Jahre zum Inhalt hatte.

Ich habe vorhin, als ich die Diskussion gehört habe, gedacht: Sie sind ziemlich nah an der Thematik. Denn eines der wichtigsten Themen war Harmonie und Ganzheit in den Schulen. Wie man das weiterentwickelt, das wird in Finnland auch in den nächsten 10 Jahre eine große Rolle spielen. Man hat zwar gestern das 30-jährige Gesamtschuljubiläum - eine gemeinsame Schule für unterschiedliche Lerner - gefeiert. Aber man macht sich mehr Gedanken um die Zukunft. Man hat die Einstellung, die Gegenwart ist der Übergang von der Vergangenheit in die Zukunft und es muss ständig neu beschrieben werden, in welche Richtung man sich bewegt.

Das Thema PISA, das wollte ich voranstellen, spielt in Finnland eigentlich keine große Rolle. Die erste PISA-Studie wurde mit einer kleinen Notiz in der Presse wahrgenommen, bei PISA 2 hat man sich gewundert, warum immer noch so viele Leute nach Finnland kommen, obwohl man selbst noch so viele Defizite hat. Und man war ein wenig darüber erstaunt, warum die anderen noch schlechter sind und noch mehr Defizite haben. Man hält sich in keinster Weise für den Weltmeister. Man war insofern nicht unglücklich, als man besser als die Schweden war - man sieht das eher als einen sportlichen Wettbewerb.

Ansonsten möchte ich sagen: Man reist immer noch. Man hat zum Beispiel aus Deutschland jahrhundertelang gelernt. Wir haben zuletzt in den neunziger Jahren die Fachhochschulen aus Deutschland importiert und momentan sind wir dabei in allen Ländern nachzugucken, wie die das mit der Erwachsenenbildung machen. Und dann holt man sich die besten Sachen zusammen und überlegt sich, was kann man - nicht nachmachen - übertragen, welche Strategien kann man lernen, die für die Zukunft der Gesellschaft wichtig und notwendig sind. Das ist die Kernaufgabe: eine gesamtgesellschaftliche Einbettung von Schule, Schule ist ein Teil von Gesellschaftspolitik - und umgekehrt.

 

Ich werde nicht in der Vergangenheit anfangen, sondern möchte Ihnen ganz kurz zehn Punkte vorlegen, die wir im Mai in einer Strategiediskussion - nachdem wir die jetzigen Standards in die Schulen gegeben haben, die ihre eigenen lokalen Lehrpläne im Rahmen dieser Standards schreiben müssen und auch in der Fortbildung sehr viel Umsetzung betreiben - entwickelt haben. Wir haben dabei den Blick auf das Jahr 2010, 2015 gerichtet, wenn die nächsten Standards geschrieben werden. Ich werde sie Ihnen ganz kurz vorstellen, damit Sie sehen, in welche Richtung Finnland sich bewegt. In diese Diskussion werden alle, die mit Schulplanung zu tun haben, eingebunden. Wir sind im Zentralamt nicht nur eine Behörde, obwohl wir die Exekutive des Parlaments beziehungsweise des zuständigen Ministeriums und der operative Faktor in der finnischen Schulpolitik sind. Wir haben uns Gedanken gemacht, welche Punkte eine Rolle bei der Gestaltung von Schule und Bildung sowie Rahmenlehrplänen spielen werden.

 

  • Da ist zuerst die Globalisierung und Internationalisierung, die auch in den Lehrplänen eine große Rolle spielt.

  • Die Symptome einer älter werdenden Gesellschaft, das heißt die Erwachsenenbildung, wird eine ganz große Rolle spielen. Wie werden wir die ältere Generation auf einem hohen Standard der Bildung halten?

  • Die Wandlung der Form und des Begriffes von Arbeit: Es ist selbstverständlich, und auch das wissen wir, dass wir nicht mehr allen jungen Menschen und Kindern eine lebenslange Anstellung und Beschäftigung bieten können - das ist auf der ganzen Welt so. In 20 Jahren werden in der industriellen Produktion nur noch 20 Prozent im Vergleich zu heute tätig sein. Das ist eine Tatsache, an der man nicht vorbeikommt. Deshalb muss man sich heute schon Gedanken machen. Das betrifft die Kinder, die heute eingeschult werden oder die, die noch geboren werden.

  • Eine weitere Tendenz ist Regionalisierung, auch im Bereich der Bildung, sowie eine geringere Bedeutung von Staaten: Man kann nicht mehr sagen, wer in den Grenzen xy lebt, der hat die und die Bildung, sondern denken Sie an die EU, an die Durchlässigkeit, denken Sie aber auch an die globale Durchlässigkeit. Ich möchte einmal sagen, dass das moderne Völkerwanderungen sind, die es ja in der Geschichte immer gab, nur in einer anderen Form und vielleicht geregelter. Aber wenn Sie an die spanische Südgrenze denken, dann können Sie sich vorstellen, welche enorme Explosionskraft in dieser Frage steckt. Das heißt die staatliche Bedeutung für das, was in den eigenen Grenzen geschieht, wird abnehmen und es wird wesentlich mehr regionale Einheiten geben.

  • Ein weiterer wichtiger Punkt ist die Migration von anderen Ländern und in andere Länder. Finnland hat das in den sechziger Jahren erlebt, als 500 000 Finnen, das sind 10 Prozent der Bevölkerung, nach Schweden auswandern mussten, weil sie keine Arbeitsplätze mehr in Finnland gefunden haben. Und gerade in dieser Zeit und vor diesem Hintergrund hat man die erste große Bildungsreform durchgeführt. Weil man sagte, so kann es nicht noch einmal kommen, wir brauchen eine flexible Bildungsgesellschaft.

    Schöpferisch die Zukunft gestalten, das steht über allem. Wer das nicht schafft und wer das nicht kann, der hat heute schon verloren. Schöpferisch heißt, dass man mit realer Fantasie darangeht zu überlegen, wie die Zukunft aussieht und welche Weichen man heute dafür stellen muss. Denn die Zeit vergeht schnell und ein Menschenleben von 1 bis 20 Jahren ist auch schnell gelebt. Aber die Bedingungen dafür müssen heute hergestellt werden.

  • Die Erhaltung einer Wohlfahrtsgesellschaft ist in Finnland ein wichtiges Thema. Kein Mensch würde daran zweifeln, dass die Wohlfahrtsgesellschaft Bestand haben sollte. Bei Umfragen antworten - alle zwei Jahre wird diese Umfrage gemacht - etwa ¾ der Finnen auf die Frage, ob sie die wohlfahrtstaatlichen Leistungen erhalten wollen mit mehr Steuern oder ob sie weniger Steuern zahlen möchten und dafür weniger Leistung erwarten, eindeutig mit "unter Umständen mehr Steuern bezahlen" und die Leistungen behalten.

  • Die Wertschätzung anderer, Toleranz und Verhinderung von Ausgrenzung ist ein Thema, das nicht nur in Finnland eine Rolle spielt, sondern auch globale Bedeutung hat.

  • Dann ein Punkt, der in Finnland gesellschaftlich sehr, sehr breit diskutiert wird, nämlich der Übergang von der Informations- und Wissensgesellschaft zu einer biotechnologischen Gesellschaft, in der Biotechnologie, Gentechnologie, die Herausforderungen für Energiegewinnung im Hinblick auf den Wohlstand und die Wohlfahrt eines Volkes eine große Rolle spielen. Das alles wird sehr, sehr konkret wahrgenommen mit allen gesellschaftlichen, ethischen und juristischen Problemen, die damit zusammenhängen.

  • Und schließlich Nummer 10: Man ist davon überzeugt, dass eine Demokratie nur Bestand haben wird mit einer hoch ausgebildeten Bevölkerung. Und zwar einer Ausbildung für alle, nicht nur für einen Teil. Denn in einer Demokratie, in der jede Stimme bei Wahlen gleich viel Gewicht hat, ist es wichtig, dass alle aktive Staatsbürger sind und Verantwortung übernehmen können. Und das ist eben nur möglich mit einer enorm hohen Bildungsanstrengung für alle.

 

Man hat sich in Finnland nicht darum gekümmert, wie gut andere sind, sondern hat für sich eigene Maßstäbe gesetzt und hat die dann erreicht. Man hat zum Beispiel in den neunziger Jahren gemerkt, dass es mit der Lesekompetenz nicht so weit her ist. Daraufhin hat man ein landesweites Lesekompetenznetzwerk gegründet und Fortbildung betrieben für das ganze Land, und in anderen Bereichen war es genau so.

 

PISA hat vielleicht bewirkt, dass man plötzlich bemerkt hat: Hoppla, das ist ja gar nicht so schlecht, was wir machen, und andere interessieren sich auch dafür. Ein Jahr nach der ersten PISA-Studie haben sich die skandinavischen Unterrichtsminister in Malmö getroffen und so etwas wie eine gemeinsame Schule für unterschiedliche Lerner als skandinavisches Modell, als Beitrag der skandinavischen Länder zur Schulentwicklung, bezeichnet. Insofern könnte man vielleicht bis in den 30-jährigen Krieg zurückgehen und sagen, auch damals kam aus Nordeuropa die Erneuerung oder eine Reformation. Solche Assoziationen kommen einem manchmal, wenn man die europäische Diskussion betrachtet.

 

Das war ein kurzer Blick in die Zukunft. Wenn Sie jetzt in die Vergangenheit blicken, dann sehen Sie, dass eine einheitliche Entwicklung von Anfang an vorhanden war. Es gab damals in den sechziger und siebziger Jahren eine Diskussion, die ähnlich wie in Deutschland schon über 100 Jahre alt ist, nämlich die der Chancengleichheit für alle im Bildungssystem und der Einbeziehung aller. In Finnland wurde dies konkret pragmatisch in den sechziger Jahren angegangen, vor dem Hintergrund, dass in Finnland Bildung immer ein emanzipatorischer Faktor war. Die finnischen Frauen haben als erste in Europa und als zweite in der Welt - 1907 - das aktive und passive Wahlrecht erhalten. Und ähnlich wie diese Staatsbürgerrechte ist auch Bildung ein Recht für alle. Es gab in Finnland auch nie so etwas wie ein Bildungsbürgertum, das Bildung für sich in Anspruch genommen hat und es dann zunehmend bis zum heutigen Tag mit Einbildung verwechselt hat, sondern Bildung war immer unteilbar. Es war ein Gut, zu dem möglichst alle Zugang finden sollten. Auch das Bibliothekswesen war immer hoch entwickelt. Finnland war außerdem eine Wiege der Volkshochschule, die sich in Deutschland durchgesetzt hat und die nach dem Zweiten Weltkrieg erst wieder Fuß fassen musste.

Diese Diskussion fand 1964-1968 in Finnland statt. Übrigens hat dieselbe Regierungskoalition, die heute in Finnland regiert, die Schule für alle durchgesetzt: die Landvolk-Partei von Kekkonen und die Sozialdemokraten. Einmal aus Chancengleichheitsgründen, zum anderen aus gesellschaftspolitischen Gründen: Man hat gesagt, man kann sich das nicht mehr leisten. Stellen Sie sich vor, sie würden auf dem Lande in einigen kleinen Schulen die Kinder noch aufteilen in verschiedene Schularten.

Eine Sekretärin von uns hat mich kürzlich gefragt: Ja, was machen die jetzt in Deutschland, tun die irgend etwas? Du warst doch schon ein paar Mal dort, da muss doch irgendwas vorwärtsgehen. Was ist denn der Hauptunterschied da?

Der Hauptunterschied zu Deutschland ist, bemerkte ich, dass die Kinder im Alter von 10 Jahren in verschiedene Schulen aufgeteilt werden. Da guckte sie mich ganz entgeistert an und sagte: Das ist ja unmenschlich. Das hatten wir auch einmal so bei uns.
Soweit nur, um Ihnen zu zeigen, mit welcher Haltung man solche Diskussionen in Deutschland sieht und begleitet. Und der frühere Leiter des Zentralamtes, Präsident Jupp Kasariala, der viele deutsche Gäste betreut - wir haben ja alle möglichen Minister zu Gast -, sagte, er fühle sich exakt versetzt in die Diskussionen der sechziger Jahre. Es war wie eine Zeitreise zurück.

 

1975 wurde - bis auf Helsinki, wo es den größten Widerstand gab - diese neue Schulform eingeführt. Es gibt eine Schule für alle Kinder von Klasse 1 bis Klasse 9 bis auf den heutigen Tag; die Schulträgerschaft ging auf die Kommune über, auch die inhaltliche Verantwortung.

 

Nach dieser Schulstrukturreform kam die innere Schulreform. Man kann eine Struktur nicht ohne Lernkultur betrachten, das eine bedingt das andere. Sie können nicht das eine ändern und das andere beim Alten lassen - das geht nicht. Es musste also eine Lehrplanreform folgen. Die Schul- und Lernkultur hat in den Köpfen der Lehrer einen Paradigmenwechsel hervorgerufen.

Traditionell waren natürlich die Gymnasiallehrer sehr gegen diese Reform. Man hat Schulstreiks organisiert, es gab Protestkundgebungen, Eltern wurden zusammengeholt um zu protestieren usw. Das hat etwa ein bis zwei Jahre gedauert. Und zwar hat man einen Niveauverlust vorhergesagt und unheimlich viele Probleme. Gewonnen hat dann diese Schulform in Finnland - so glaube ich -, als die Menschen gemerkt haben, dass diese Schulreform nicht dazu da war, um einem Teil der Bevölkerung - auch akademisch gebildete Eltern waren sehr gegen diese Reform - Bildung wegzunehmen, dass also ein Teil weniger Bildung bekommt, sondern dass alle mehr Bildung bekommen sollen. Und als das auch in den Familien klar geworden ist, dass das so ist, war man zufrieden und hat Frieden geschlossen mit dieser Reform. Und seither gibt es keine Strukturreformdiskussionen mehr, in keinster Weise.

 

Eine der weiteren Reformen, die auch die Lernkultur prägen, war die Abschaffung der Schulinspektion. Damals gab es Schulinspektionen: Die Inspektoren kamen in die Schulen als Aufsichtsbeamte und haben sich Schulen angeguckt. Die Abschaffung dieser Schulinspektionen kam - das ist ganz interessant - von den Schulinspektoren selbst, denn sie haben gelernt, dass durch Schulbesuche, durch Berichte, die geschrieben werden, keine Qualitätsentwicklung in Schulen stattfindet; sondern dass die Qualitätsentwicklung abhängig ist von der Arbeit derer, die an und in den Schulen auf dieser kommunalen Ebene arbeiten. Und seither sehnt sich kein Mensch mehr danach zurück, auch nicht die Schulinspektoren.

Man hat dann diese Qualitätssicherung oder Qualitätsbeobachtung ersetzt durch eine Evaluierung: Alle Schulen sind verpflichtet, sich intern zu evaluieren, auf kommunaler und auf Schulebene. So wie Schüler evaluiert werden von Lehrern, wird auch die Schule evaluiert, werden Lehrer und auch der Unterricht stark evaluiert. Dazu braucht man ein Vertrauensverhältnis, das aber erst durch solche Maßnahmen entwickelt werden kann, sonst geht es ja nicht.

Die Einführung der schulischen Evaluierung - das wäre ein Thema für sich, wie das vor sich geht - braucht eine sehr, sehr sorgfältige, genaue fachmännische Erstellung von Indikatoren. Man kann nichts evaluieren, ohne zu wissen wohin man möchte. Nehmen wir als Beispiel: Wenn in Deutschland als ein Ergebnis der PISA-Evaluierung herausgekommen ist, dass der schulische Erfolg sehr stark - am meisten von allen Ländern - vom sozialen Hintergrund der Familie abhängt, dann wäre es ja eine Möglichkeit zu sagen, das ist ein Skandal. Das sagen alle. Wenn ich sage, das ist ein Skandal, dann müsste ich ja etwas anderes machen. Dann müsste ich überlegen, welche Indikatoren führen dazu, dass das so ist? Was sind die Gründe dafür und in welche Richtung möchte ich denn in etwa 5 Jahren Ergebnisse haben? Welche Maßnahmen muss ich heute ergreifen - nicht morgen - um etwas zu verändern? Wann evaluiere ich? Was wird evaluiert? Welches sind die Maßstäbe für diese Ergebnisse? Das muss sehr klar gemacht werden, und Finnland hat drei Jahre gebraucht, von 1990 bis 1993, bis diese Indikatoren feststanden. Und man ist heute immer noch ständig daran.

Dann gibt es bis zum heutigen Tag landesweite Fortbildung für Schulprojekte. Fremdsprachenvielfalt - für Finnland lebensnotwendig - war früh ein Schwerpunkt: Zwei Fremdsprachen für alle Kinder sind seit den siebziger Jahren verwirklicht. Ich kann mich erinnern, dass man in Deutschland, in Baden-Württemberg, in den 70er Jahren noch lange darüber diskutiert hat, ob man denn eine Fremdsprache für alle braucht und ob man nicht den Kindern, die nicht so schnell lernen, lieber Deutsch beibringen sollte. Insofern war das schon damals überholt, weil man wusste, dass man über eine Fremdsprache die eigene Muttersprache besser lernen kann. Und je mehr Fremdsprachen man lernt, desto mehr entwickelt man dabei auch die Muttersprache. Weiter werden Mathematik und Naturwissenschaften, die Förderung der Lesekompetenz als Grundkompetenz für alle Fächer, und virtuelle Schule, also computergestützter Unterricht in den nächsten Jahren noch eine große Rolle spielen. Es gibt andere Lernumgebungen, die durch das Intranet einer Schule geprägt werden. Ich nehme an, dass es in fünf Jahren in Finnland keine Schule mehr gibt, die ihre Lernumgebung, ihre Lernkultur nicht in diesem Bereich beschreiben kann.

 

Diese Schule für alle - und das ist auch Ihr Thema heute - wird von Anfang an geprägt von einem Unterstützungssystem, in dem Schulpsychologen, Gesundheitsfürsorger als Schulpersonal mitarbeiten, neben Schulleitern und Fachlehrern oder Klassenlehrern - wobei das Wohlergehen von Lehrern und Schülern eine große Rolle spielt.

Es gibt so gut wie keine Sonderschulen mehr. Es gibt Sonderklassen oder Sondergruppen, aber immer wird von Inklusion und Integration ausgegangen. Kuratoren als Sozialarbeiter werden genauso wie Lehrer von der Kommune angestellt und arbeiten nicht in irgendwelchen Beratungsstellen, sondern in der Schule. Dazu werden auch Neurologen hinzugezogen. Defizite versucht man sehr, sehr früh, vor allem im Kindergarten und in der Vorschule zu entdecken und die Kinder zu fördern. Sie gehören zum Schulpersonal, genau so wie Schullaufbahnberater, die ab Klasse 7, 8, 9 die Schüler beraten. Die Schullaufbahnberatung ist ein Schulfach, ein Pflichtfach, und berät dabei, welche Fächer die SchükerInnen wählen, in welche Richtung sie sich bewegen, ob sie nach der 9. Klasse in die Berufsbildung gehen oder auf die gymnasiale Oberstufe.

Eines der wichtigsten der Prinzipien ist, nicht ausgrenzen. Dieses Ausgrenzen ist sicherlich mit das Schlimmste, was einem Lehrer von anderen Kindern oder Eltern zum Vorwurf gemacht werden kann.
Es gibt ein paar Gründe für den Erfolg des finnischen Modells, die ich nennen will.
In Deutschland wird zu früh ausgelesen und werden 10-Jährige in verschiedene Bildungsrichtung gesteckt; dadurch werden vom gesamten Schülerjahrgang zu viele Begabungen weggeworfen. Deutschland ist neben Österreich und der Schweiz mehr oder weniger das einzige Land auf der ganzen Welt, das so vorgeht. Das versteht man von außen nicht. Mir wird es immer unheimlich, mit welcher Selbstverständlichkeit man den Indikator "Schulart" als Qualitätsindikatoren von Sylt bis Berchtesgaden einfach so hinnimmt.
Zum zweiten gilt, wenn man einen Jahrgang hat und die Lehrpläne und die Standards für den ganzen Jahrgang geltend macht: Je höher man die Anforderungen für alle setzt, desto besser werden auch alle.

Auszüge aus der Diskussion:


Frage: Die Evaluierung, von der Sie gesprochen haben, ist sie extern durchgeführt worden oder ist die an der Schule selbst entwickelt worden?

 

Rainer Domisch: Man hat in Finnland einen ganz anderen Evaluierungsweg genommen als alle anderen Länder, auch als Schweden und Norwegen. Sie wissen ja, dass Schweden auch die Ergebnisse der Schulen öffentlich ins Internet stellt. In Finnland macht man das nicht. Es kommt nicht auf die Bewertung von außen an, sondern es kommt auf die Qualitätsentwicklung der Schulen an, das ist das Wichtigste. Und die Schulen müssen das selbst wissen. So wie ich einem Schüler nicht sagen kann "Du hast das ganz blöd gemacht" oder "Du hast es nicht geschafft", muss man versuchen, die Schule so zu motivieren -, dass sie sich ihrer Lage bewusst wird.

 

Es gibt eine Evaluierung auf allen Ebenen und es gibt seit 1994/95 eine jährliche Evaluierung, in der die Neuntklässler, oft auch die Sechstklässler - evaluiert werden - es gibt sonst keine einzige finnische Schulprüfung außer dem Zentralabitur, es gibt also keine mittlere Reife oder sonst etwas. Aber es gibt diese jährlichen Evaluierungsphasen. Jedes Jahr sind Finnisch als Muttersprache beziehungsweise Schwedisch als Muttersprache und Literatur und Mathematik - jedes Jahr im Wechsel - dabei. Dazu kommen dann andere Fächer im Turnus. Und alle fünf Jahre - kann man sagen - kommt jeder Schüler oder jede Schule mal dran und auch jedes Fach. Es gibt dazu eine Auswahl, eine Zufallsauswahl, eine repräsentative Auswahl, von fünf bis 8 Prozent aller Schüler, die zu diesem Schülerjahrgang gehören und die mitmachen müssen.
Mich belustigt das manchmal, wenn man fragt: Wer bewirbt sich in Deutschland für eine Evaluierung? Da haben Sie schon ein Fehlergebnis. Denn wenn sich Schulen selbst für fähig halten, da mitzumachen, dann haben Sie schon eine Auswahl, die kein repräsentatives Ergebnis bringt. Diese fünf bis acht Prozent bei uns repräsentieren praktisch den finnischen Schüler: sozial, wirtschaftlich, geschlechtsspezifisch, Land/Stadt-Verhältnis - das alles haben Sie damit drin. Übrigens nehmen dreimal so viele Schulen freiwillig teil als müssten. Und es würden noch mehr teilnehmen, aber sie müssen dafür bezahlen - das ist der Grund, warum es vielleicht weniger sind. Die Stadt Helsinki macht bei allen nationalen Evaluierungen mit. Man wusste schon vorher, dass die Schulen zwischen Lappland und Helsinki ziemlich nahe beieinander liegen. Alle Fachleute sagen, dass da das Verdienst des Schulsystems ist.

 

Man ist mit der Vergabe von Privatschulen sehr geizig. Nur zwei Prozent der Schulen sind Privatschulen und man ist eher geneigt, keine weiteren zuzulassen. Man versucht eher, das, was an Qualitätsmerkmalen in den Schulen landauf, landab festgestellt wird, auf das ganze System zu übertragen und für alle fruchtbar zu machen. Dadurch kriegen Sie eben dieses hohe Niveau, wobei nur - wie ich glaube - drei Prozent der finnischen Schulen knapp unter dem OECD-Niveau liegen, in sich sind die Schulen fast gleich. Und Sie haben dieselben Leistungsschnitte in Lappland wie in Mittelfinnland oder in Südfinnland.

 

Es gibt natürlich auch Unterschiede, und zwar Unterschiede insofern, dass Helsinki ein Instrument der positiven Diskriminierung eingeführt hat. Man hat festgestellt, dass es auch in Finnland, obwohl dort die sozialen Hintergründe relativ am allerwenigsten Einfluss auf Lernerfolge haben, einen Zusammenhang zwischen sozialem Hintergrund und Lernerfolg gibt.

 

Es ist überhaupt keine Frage, dass die Familienverhältnisse - auch die Tradition, die Lerntradition - bestimmend sind für den Lernerfolg der Kinder in den Schulen. Aber man hat festgestellt, dass dafür einige Faktoren bestimmend sind: zum Beispiel hohe Arbeitslosigkeit innerhalb des Einzugsbereiches, die Höhe des Verdienstes der Familien mit Kindern, die Ausbildung vor allem der Mütter nach dem 15. Lebensjahr - also wie lange und wie gut sie ausgebildet sind - das alles spielt eine große Rolle -, ebenso wie die Wohnverhältnisse, also wie viele m² eine Familie zur Verfügung hat. Aufgrund dieser Faktoren hat man eine positive Diskriminierung geschaffen, das heißt Schulen, die sehr stark diese Faktoren in ihrem Einzugsbereich zu verzeichnen haben, bekommen mehr Mittel, mehr Ressourcen, um eben kleinere Gruppen bilden zu können, um Förderunterricht anzubieten, um zum Beispiel Toiletten schnell reparieren oder Bibliotheken attraktiv machen zu können usw.

 

Es gibt in Finnland im Gegensatz zum Beispiel zu Norwegen keine Rangliste, sondern es wird der Landesdurchschnitt veröffentlicht, und jede Schule bekommt dezidiert ihr eigenes Ergebnis. Die Schule muss sich dann durch diesen Vergleich entwickeln.

 

Frage: Sie haben zu Recht gesagt, dass die Qualitätsentwicklung in der Schule stattfinden muss und nicht von außen kommen kann. Wie wird das in Finnland gemacht? Die Lehrkräfte sind ja genetisch keine anderen Menschen als in Deutschland. Wie gelingt es, einen erfolgreichen Unterricht zu machen? Liegt es auch daran, dass der Lehrberuf in Finnland der angesehenste Beruf ist und dass nur die Spitze der Universitäten an die Schulen kommen? Ist das auch ein Merkmal, dass es Finnland gelungen ist, im Kollegium besser zu kooperieren, zusammenzuarbeiten, den Unterricht zu verbessern, die Schule zu verbessern?

 

Rainer Domisch: Ich möchte zunächst bei dem letzten Punkt anfangen: Ich habe den Leiter des Schulleiterverbandes in Finnland gebeten, mir einmal aufzuschreiben, was das Berufsverständnis ist. Und er hat mir folgendes aufgeschrieben - das sind also offizielle berufsethische Regeln für Schulleiter, die sie selbst verabschiedet haben. Sie können sehen, welche enorme Bedeutung Toleranz und die Akzeptanz von anderen Menschen haben: "Der Schulleiter kennt die Ziele, die die Gesellschaft der Schule gesetzt hat und strebt danach, sie zu erreichen. Der Schulleiter schätzt jeden Einzelnen im Arbeitsumfeld als einzigartigen, unverletzlichen und gleichberechtigten Menschen. Der Schulleiter ist verantwortlich dafür, dass der Standpunkt des Schülers, des Lernenden, respektiert wird. Der Schulleiter ist für die Sicherheit des Arbeitsumfeldes verantwortlich. Der Schulleiter strebt in seiner Tätigkeit danach, berufliches Können wie Wertschätzung des Berufes zu fördern und er ist für die finanzielle Unterhaltung zuständig."
Der Schulleiter stellt ja mit den Kommunen die Lehrer ein, und ich habe ihn dann auch noch gefragt, wie er sich vorstellt, dass ein guter Lehrer seinen Beruf verstehen sollte: "Der Lehrer zeigt sein Interesse für jeden einzelnen Schüler. Der Lehrer gibt Schülern die Möglichkeit, ihre Meinungen zu äußern. Der Lehrer unterstützt Schüler bei ihrer Arbeit. Der Lehrer unterrichtet so lange, bis die Schüler den Stoff verstehen." Mir hat früher eine Gymnasiallehrerin einmal gesagt, dass sie damals mit dieser Schulreform lange gehadert hat und dass ihr das so lange völlig fremd war, bis sie verstanden hat, dass nicht die Schüler für sie da sind, sondern sie für die Schüler.

 

"Der Lehrer hilft Schülern bei ihren Lernprozessen." Sie müssen das natürlich etwas differenziert sehen - aber das sind die Grundrichtungen. Es gibt keine Probleme, die Sie hier haben., die es in Finnland nicht auch gäbe. Aber es ist die Art und Weise, wie man damit umgeht und welche Rolle Menschen dabei spielen.
Die Lehrer sind in der Tat hoch geschätzt und die Universität Helsinki hat von 1200 Bewerben 120 angenommen. Allerdings werden die dann auch ausgebildet und nicht mehr rausgeschmissen. Die müssen unter anderem auch erklären, warum sie Lehrer werden wollen.

 

Frage: Ich hätte gerne noch einmal gewusst, wie sich das mit der Notenbildung verhält. Hierzulande sind Noten ja ein Mittel zum Zweck der Auslese. Wie ist das gelöst? Sie haben gesagt, dass so lange unterrichtet wird, bis jeder das verstanden hat. Wir haben in den sechziger Jahren - Sie haben ja daran erinnert - genau die gleichen Diskussionen gehabt wie in Finnland. Diese Erkenntnisse, die sie jetzt dargestellt haben, sind ja im Hinblick auf die damaligen Diskussionen überhaupt nichts Neues. Was mich immer wieder entsetzt ist, wie wenig lernfähig man hier ist. Es wurden bei uns mehr Vergleiche angestellt und es wurden mehr Tests eingeführt, und dabei blieb es dann. Das, was eigentlich in Finnland verändert wurde, nämlich die Strukturen des Bildungssystems, das haben wir hier nicht geschafft. Trotz aller Widerstände muss es doch in den siebziger Jahren in Finnland einen gesellschaftlichen Konsens gegeben haben, diese Strukturen radikal zu verändern. An dem Punkt ist es hier abgebrochen. Und es ist dann eher wieder zurück in die fünfziger Jahre gegangen.


Rainer Domisch: Ich versuche ganz kurz darauf einzugehen. Auch die Noten waren ein Lernprozess. Es gibt von Klasse 1 bis 4 grundsätzlich keine Ziffernnoten, sondern man ist dazu übergegangen, sehr viel Selbstevaluierung einzuführen - Evaluierung schon in der Vorschule im Kindergarten. Die drei Säulen der finnischen Schulstandards sind einmal das Stoffwissen, die zweite Säule ist das Lernen lernen und die dritte Säule ist das lebenslange Lernen oder das lebensbegleitende Lernen. Das wird in den Standards vorgegeben und die Schulen müssen ihre eigenen, lokalen Lehrpläne schreiben. In Klasse 5 und 6 kann die Schule selbst entscheiden, und erst ab Klasse 7 gibt es Noten: 4 die schlechteste, 10 die beste. Es gibt auch sehr viele Möglichkeiten von Fördermaßnahmen, von Förderkursen, von Nachprüfungen. Man versucht eben alle mitzunehmen und soweit wie möglich zu bringen. Dass das so gut im internationalen Vergleich klappt, hat sicherlich auch viele in Finnland überrascht.

 

Zwischenfrage: Aber abgeschafft sind die Noten auch nicht?


Rainer Domisch: Nein, sie sind nicht abgeschafft. Ich glaube, das wäre auch gegen die Eltern überhaupt nicht durchsetzbar, auch nicht gegen die Schüler. Wir haben einen anderen Weg beschritten und haben zum Beispiel in den Standards der Fremdsprachen den europäischen Referenzrahmen mit den Kompetenzen als Maßstab gesetzt. Die Lehrer sind jetzt gezwungen, wenn sie eine Note hinschreiben, sich vorher genau zu überlegen, welchen Kompetenzen entspricht diese Note. Und in den Standards haben wir als die gute Kompetenz in den Fächern die Stufe 8 reingeschrieben und haben auch Beispiele dazu gegeben. Wir haben im ganzen Land gesammelt, haben dafür viel gearbeitet um rauszukriegen, was zum Beispiel in Fremdsprachen Stufe 8 bedeutet. Wir haben dann einen ganz praktikablen Vorschlag gemacht, da die Lehrpläne und die Standards ja nicht erlassen werden - wir sind eher eine Entwicklungsbehörde als eine Erlasse gebende Behörde. Wir haben 600 Pilotschulen eingebunden, die von Anfang an mitgearbeitet haben, und dadurch ist es auch akzeptiert worden.

 

Zur Lehrerbildung: Natürlich muss man auch Strukturen ändern. Wenn Sie in andere Lernkulturen wollen, dann müssen Sie auch die Voraussetzungen ändern. In Finnland kann seit den siebziger Jahren kein Lehrer mehr einen Schüler abschieben und sagen, du gehörst nicht hierher. Und wenn man das macht, dann entwickeln sich ganz neue Fertigkeiten und Fähigkeiten von Lehrern , das sind ja kluge Menschen. Sie können selbst entscheiden, wie sie die Kinder weiterbringen. Und dann haben sie natürlich die Unterstützungssysteme, die Sie auf kommunaler Ebene ja auch haben. Es gibt hier ja Erziehungsberatungsstellen, es gibt Schulpsychologen, es gibt dies und jenes. Da muss man halt auch die Zielsetzung haben und sagen: Wir müssen die Gesetze so ändern, dass die Schulen auch Selbstverantwortung im finanziellen Bereich übernehmen und auch selbst Leute einstellen können.

 

Zur Lehrerverteilung: Es kann sich kein Mensch mehr vorstellen, dass Leute dafür bezahlt werden, auszurechnen, wie viel Lehrer einer Schule zustehen. Das wissen ja die Schulen viel besser selbst, die können die Stellen dann ausschreiben. Wie wollen Sie eine schöpferische Generation erziehen, wenn das System zu starr ist?

 

Zum Thema Konsens: Es ist klar: In Finnland gibt es Konsens, es gibt aber auch viel Dissens. Es gibt viel mehr Streiks und viel mehr Streit zwischen Gewerkschaften und Betrieben. Aber es gibt eben auch - ich glaube durch die Bildung und die Einsicht, die sich entwickelt, wenn man Hintergründe in der Gesellschaft versteht - die Einsicht, dass manche Dinge einfach sein müssen. Es geht nicht anders. Man hat diese große Reform in den sechziger Jahren gemacht, man hat Anfang der neunziger Jahre, als Finnland praktisch bankrott war - nach dem Zusammenbruch des Osthandels -, es wieder neu versucht und wieder ganz radikale Reformen durchgeführt, zum Beispiel in der gymnasialen Oberstufe. Von den Chinesen kommen nächstens 500 Experten, die das in China an 17 000 Orten umsetzen wollen. Die waren schon vor PISA in Finnland und haben gesagt, das ist unser System, so etwas könnten wir gut gebrauchen. Aber das sind eben solche Dinge: dass man sich ein bisschen umschaut in der Welt und die dann übernimmt.

 

Ich möchte Sie noch auf etwas aufmerksam machen:

 

Ich glaube, dass die Minister - oder einige Kultusminister - viel aus Finnland mitgenommen haben. Ich möchte nur den Kultusminister von Mecklenburg-Vorpommern erwähnen, der gesagt hat, sie wollen eine Schule für alle von 1 bis 8. Dann gibt es aber ein Problem: In der KMK heißt es dann: Wenn ihr das macht, dann erkennen wir euer Abitur nicht mehr an. Das sind diese Föderalismusprobleme, die allerdings deutsche Probleme sind.

 

Dann möchte ich Sie noch auf einen gelungenen Prospekt hinweisen "Die eigene Schule mit der PISA-Lupe untersuchen. Sie können ihn im Internet finden unter www.laenger-gemeinsam-lernen.de

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