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ARCHIV 2006 - Februar 2014

Spezifika der Schulen in Deutschland - Ein kulturgeschichtlicher Streifzug*

Rainer Winkel


"Schulen können nie gut genug sein, deshalb sind die auch ständig reformbedürftig, so schwer den Deutschen diese Einsicht fällt", sagte Heinrich Roth in seiner letzten großen öffentlichen Ansprache auf dem Bundeskongress der GEW am 3.11.1980 in Mainz.

Einen Streifzug, einen Spaziergang also, darf und soll ich mit Ihnen unternehmen - da mag ein Reiseführer sinnvoll sein. Vielleicht einer der folgenden:

  • Christa Berg u. a. (Hrsg.): Handbuch der deutschen Bildungsgeschichte. 6 Bände, München: C. H. Beck 1988 ff.
  • Hans Döbert u. a. (Hrsg.): Die Schulsysteme Europas, Baltmannsweiler: Schneider Verlag 2004
    Volker Ladenthin/Jürgen Rekus (Hrsg.): Die Ganztagsschule, Weinheim-München: Juventa Verlag 2005
  • Rainer Winkel: Am Anfang war die Hure. Theorie und Praxis der Bildung oder: Eine Reise durch die Geschichte des Menschen - in seinen pädagogischen Entwürfen, Baltmannsweiler: Schneider Verlag 2005


Mein Vortrag ist in sechs Abschnitte gegliedert. Ich werde sechsmal entlang von einigen Folien um einen Gedankengang bitten und ich werde nach jeder Station eine These formulieren.

I. Was war, was ist Schule? Oder: Einige Abbildungen

Wer auf unserem pädagogischen Streifzug die folgenden sechs Abbildungen (nicht nur Revue passieren lässt, sondern) genauer betrachtet, wird feststellen, dass und wie sehr Schule dem gesellschaftlichen Wandel unterworfen ist - zum Guten und zum weniger Guten hin. Ob die Stifts- und Klosterschulen des frühen Mittelalters, die Lateinschulen im 16./17. Jahrhundert, die Napolas im 3. Reich oder die Gesamtschulen unserer Zeit ... Sie waren, sie sind Schulen. Deshalb formuliere ich eine

1. These: Die Schule ist stets das, was wir über sie denken, was wir für sie empfinden und was wir mit ihr tun!

 

Ich will das kurz kommentieren: Es gibt keine Schulen, die vom Himmel fallen - Schulen sind immer auch gewordene Institutionen. Und das heißt: ehe die Praxis war, war ein Denken über die Praxis. Schulen sind aber auch immer das, wie wir mit Schulen emotional und sozial umgehen. Wer Schulen für eine Kaserne hält oder für eine Lernfabrik, wird etwas anderes dafür empfinden, und das heißt, er wird auch anderes für sie tun. Seit dem 7., 8. Jahrhundert haben wir in Deutschland Schulen. Angefangen hat es mit Stiftsschulen, mit kirchlichen Schulen. Damals dachte man über Schulen etwas anderes, als in den Lese- und Schreibschulen, in den Lateinschulen des Mittelalters, in den Gymnasien nach Humboldt, in den Industrieschulen, in den reformpädagogischen Schulen, in den Napolas der Nazis, in den Gesamtschulen von Nordwest. Was immer wir über Schule denken, was wir für sie empfinden, was wir mit und in ihr tun, das ist Schule. Und da sollten wir uns kritisch fragen: Was denken wir heute über Schule? Was empfinden wir für sie? Und was wollen wir mit und in ihr tun?

 

II. Was ist, was war Schule? Oder: Ein etymologischer Hinweis

Nomen est omen ... Ein zweiter Weg auf unserer kulturgeschichtlichen Reise ist etymologischer Natur. Lauschen wir also in das Wort Schule . Die Römer nannten den Ort von Erziehung (educatio) und Unterricht (institutio) schola: Dort fand in Form von lectiones Belehrung statt und Bildung (formatio) - freilich nur für römische Knaben und Jünglinge. Dieses Wort schola geht zurück auf das Griechische Substantiv s'cholé, was so viel wie Muße bedeutet. Ursprünglich nannte man s'cholé die Bank am Rande der Arena von Athen: Auf ihr kam man zur Ruhe, dachte nach, überlegte. Ein Ort der Nachdenklichkeit also war die Schule. Ist sie dies heute noch? Oder wieder? Eine

2. These: Die Schule wird stets das sein, was die Geschichte ihrer selbst uns heute aufträgt!

Und da wird man sich fragen müssen: Lernen wir überhaupt noch aus der Geschichte? Oder leiden mittlerweile auch unsere Universitäten unter dem Druck der Anpassung an Modulisierung und Standardisierung, leiden sie nicht längst an retrograder Amnesie?

 

III. Wie zeigt sich das deutsche Bildungssystem? Oder: Eine weitere Abbildung

Die nächste Abbildung soll niemanden über die Struktur des deutschen Bildungssystems belehren - da gibt es profundere Fachleute. Aber sie möchte mit einem Irrtum aufräumen: Unser Bildungssystem ist nicht dreigliedrig, sondern eher viergliedrig, denn die Sonderschulen werden oft nicht mitbedacht. Beim genaueren Hinsehen aber ist auch diese Kennzeichnung kein korrekter Wegweiser. Unsere 16 Bundesländer sind mal mehr Träger eines gegliederten (also vertikalen), mal eines gesamtschulartigen (also horizontalen) Schulsystems. Und auch die Unterschiede innerhalb dieser Subsysteme sind größer als die zwischen den einzelnen Schulformen. 40.000 Schulen bilden eine äußerst heterogene Landschaft, die kein Ganzes, sondern einen Torso darstellt. Das hat natürlich historische, politische, ideologische und konfessionelle Gründe, über die es exzellente Einzelstudien gibt - etwa die von Christa Berg u. a. herausgegebenen Bände zum "Handbuch der deutschen Bildungsgeschichte". Formulieren und diskutieren aber dürfen wir eine

3. These: Die deutsche Schule ist ein Torso, und die Ursachen liegen im Föderalismus, in einer latenten Antistaatlichkeit und in einer amputierten Bildungstheorie!

Das heißt für mich nicht, dass Föderalismus ein bedenkenswerter Zustand ist. Aber es kann nicht sein, dass man 16 Schulsysteme, die innerhalb der Schulsysteme wiederum auch noch einmal unterschiedlich sind, auf die Dauer wird halten können, ohne dass in der Tat Dilemmata permanent produziert werden. Man muss sich schon entscheiden, was für ein Schulsystem man für die Zukunft haben will. Wo sind die minimalen Standards, die ich nicht in Frage stellen möchte?

Wir haben auch so etwas wie eine amputierte Bildungstheorie, die wiederum ihre historischen Wurzeln hat. Wenn man sich das Verhältnis Staat und Kirche über Jahrhunderte hinweg anschaut, so war es immer mehr ein Verhältnis der Machtusurpation als der Kooperation. Man kämpfte um die Schulen, weil man den Nachwuchs disziplinieren wollte. Die Domschulen wollten bestimmte Schüler herstellen, und der Staat wollte andere - Kaufmänner - herstellen. Das heißt Schulen wurden immer verstanden als Erfüllungsgehilfen von Staat oder Kirche. In anderen Ländern ist das anders. Da hat es sehr früh Kooperationen gegeben, weil die Schulen auch eine relative Autonomie hatten, die ihren eigenen Gang gehen durften, und der Staat hat nur darüber gewacht, dass bestimmte Standards nicht verraten werden. Diese lange Tradition, die wir allmählich erst überwinden, hat zu einer Bildungstheorie geführt, die ebenfalls in sich amputiert ist: berufliche Bildung hier, allgemeine Bildung dort. Unterricht: Belehrung, das Leben: Erfahrung. Das heißt wir haben nicht integrativ gedacht, dass es eine ganzheitliche Bildungstheorie geben muss.

 

IV. Was für Schulen brauchen wir nicht? Oder: Gesellschaftliche und schulische Fehlformen entlang von weiteren Abbildungen

Weder hierzulande noch weltweit besteht Einigkeit darüber, was für eine Gesellschaft realiter vorhanden ist und welche wünschenswert wäre. Zu unterschiedlich sind die verschiedenen Anthropologien, Lebensumstände und Geschichten. Vielleicht wird der homo dogmaticus triumphieren oder der homo otiosus mit seiner Gier nach Spaß und Lust. Als Pädagogen bleibt uns die Aufgabe gestellt, über Erziehung, Schule und Bildung den homo humanus instand zu setzen, auf dass er in einer gesellschaftlichen Entwicklung mitwirkt, bei der allen ein klein wenig mehr Freiheit, Gerechtigkeit und Geschwisterlichkeit zugute kommt.

 

Dem stehen Fehlformen von Schulen gegenüber, die zwar oft real, aber nicht wünschenswert sind - wenn die Menschenrechte aller und die Würde jedes einzelnen Menschen nicht Schaden nehmen sollen. Dieser Mensch bedarf einer ganzheitlichen Bildung, die von den Griechen enkyklios paideia genannt wurde: Zu ihr gehört die gesellschaftlich-politische Bildung ebenso wie die religiöse, ohne Hierarchie und Amputation, weshalb die Illustration dieses Sachverhaltes nur ein Kreisdiagramm sein kann. Omnes Omnia Omnino heißt es bei Comenius: Allen soll das Ganze von Grund auf gelehrt werden, und zwar in und durch Schulen. Dass diese Schule zentrale Aufgaben beziehungsweise Funktionen hat, haben muss, war Johann Amos Comenius im 17. Jahrhundert ebenso klar wie Maria Montessori im 20. Deshalb auch die in der Comenianischen "Didactica Magna" ausführlich erläuterte Forderung beziehungsweise Einsicht: schola est semper reformanda; die Schule muss stets weiter verbessert werden - im doppelten Sinn des Wortes: weiter-verbessert werden.

Schauen wir uns doch einmal genauer an, was für Fehlformen es in unseren Schulen gibt. Es gibt mittlerweile Schulen, die begreifen sich, etwas übertrieben, karikaturhaft gesagt, als Aquadrome. Da hört man gerne sanfte Musik, es darf nicht viel verlangt werden, aber es muss alles Spaß machen: Latein, Mathe, Knieaufschwung am Reck, die französischen Verben - Hauptsache es macht Spaß. Und natürlich muss das Abitur im ersten Schuljahr garantiert werden. Auch Lehrer wollen Spaß haben am Unterricht. Das ist wichtig für eine Kultur, die vom Spaß lebt. Und Sie wissen, diese weltweite Kultur lebt vom Spaß, vom Konsum. So muss man als Europäer darüber nachdenken, ob das alles so richtig ist, was wir da gesagt bekommen. Denn damit wird eigentlich das diskreditiert, was ich Lernfreude nenne.

Es gibt Schulen, die begreifen sich als Warenhaus mit teacher-proof-curricula, mit Departments und Credit-Systems. Der Schüler ein Käufer, der Lehrer ein Verkäufer: Das sind Modelle, wie sie auch in den amerikanischen Highschools zu finden sind. Die Schule ist ein Warenhaus: Man kriegt ein Angebot und man kann über die stetige Akkumulation von Wissen Kreditsysteme erwerben. Auch dies gibt es. Oder in Teilen einer Schule kann es diese geben - man begreift sich als Warenhaus.

Die Schule als Dienstleistungsunternehmen. Es gab einmal eine Phase, so vor vier, fünf Jahren, da hieß es, die Schule sei nichts anderes als die Post oder sonst ein Unternehmen und wir müssten uns endlich einmal vergleichbar mit solchen Dienstleistungsunternehmen vertraut machen - als würden wir Brötchen herstellen und nicht das Wagnis von Erziehung und Bildung eingehen, bei dem es eben keine Gewähr gibt und kein Endresultat; aber einen hoffentlich guten Weg.

Es gibt viertens Schulen, die sich als Festungen begreifen - ich meine jetzt nicht nur jede Waldorfschule - es gibt gute Waldorfschulen. Aber es gibt Schulen, die begreifen sich als Orte, da geschieht Bildung intra muros: hier in den Mauern, die Welt da draußen, das ist sekundär. An dieser Haltung ist die Reformpädagogik der Weimarer Republik letztlich gescheitert. Sie hat nicht begriffen, dass Pädagogik zwar nicht identisch ist mit Politik, aber ohne politisches Bewusstsein eine blauäugige Knickerbockererziehung betreibt.

Die Kaderschmiede: Hier will man immer anderen sagen, was man denkt und erwartet, dass er dies auch zeigt. Hier ist nicht die Freigabe von Erziehung maßgebend, sondern Manipulation: Man will im Anderen das erreichen, was man vielleicht selbst nicht erreicht hat. Ob das nun rot, grün, gelb oder blau schillert, ist zwar nicht beliebig, aber aus meiner Sicht sekundär.

Und schließlich die sechste Form, die finde ich mittlerweile die am weitesten verbreitete Form an und in deutschen Schulen: In diesen Schulen wird permanent geklagt, Deutsche klagen gern. Da ist das kleine Wörtchen "aber" riesengroß über der Eingangspforte zu lesen: Aber, jedoch, hingegen, hatten wir 68 schon einmal, hat sich nicht bewährt - hier wirken Leute, die jeden Reformansatz - und sei es die Gestaltung des Schulhofs - mit dem Wörtchen aber versehen. Man klagt und klagt und klagt.

Diese Erkenntnis berührt zentral das Verhältnis von Politik und Pädagogik, über das hier nur so viel gesagt werden soll:

4. These: Politik und Pädagogik sind nicht identisch, aber sie bedingen einander!

Die nicht wünschenswerte Schule begreift eins nicht: Sie verwechselt Politik mit Pädagogik oder sie trennt sie radikal voneinander. Die Politik schafft die Voraussetzungen für eine gute Pädagogik, sie muss den Support dieser Pädagogik bereitstellen. Aber sie darf nicht selbst Pädagogik betreiben. Und eine Pädagogik, die nicht die Politik als Voraussetzungsinstrument begreift für sich selbst, ist unpolitisch und blauäugig.

V. Was heißt Ganzheitlichkeit in Bildung, Erziehung, Schule und Gesellschaft? Oder: In unum pluribus

Kaum ein Merkmal bedarf der Konkretion im Detail wie Ganzheitlichkeit. Am Beispiel der Evangelischen Gesamtschule Gelsenkirchen (EGG), deren Gründungsdirektor und Schulleiter ich von 1997-2002 sein durfte, sei sie erläutert - die Ganzheitlichkeit in Bildung und Erziehung, in Schule und Gesellschaft.

Ganzheitlichkeit von Bildung bedeutet nicht eine Hierarchisierung, sondern sie bedeutet immer das Ganze im Auge haben. Der Mensch hat ein Recht auf gesellschaftspolitische Bildungsgänge, auf die ökonomische Bildung, auf die sprachlich-literarische, aber auch auf die ästhetisch-sportlich-musische. Und das bedeutet, wenn auch nur eine Bildungsdimension abgeschnitten wird, wird zwar der Mensch nicht aussterben - er wird auch nicht auf die Bäume zurückkehren -, aber er wird ein amputierter Mensch sein. Er muss selbst entscheiden, in welchen Bereichen er später seine Schwerpunkte setzt. Und wenn jemand sagt: Mit der religiösen Bildung, so wie sie sich zur Zeit zeigt, habe ich so meine Probleme, dann sagt er das als gebildeter Mensch und nicht als ein unwissender, der nicht vorher gekostet hat, was er danach stehen lässt. Deshalb ist es so wichtig: Der homo humanus braucht eine ganzheitliche Bildung, und wenn er die als Fundament nicht hat, als ein Spezifikum, dann ist auch die Schule nicht in Ordnung.

Auf vier Säulen sollte die EGG pädagogisch aufgebaut werden, denn sie wollte sein und werden eine Familien-, eine Erziehungs-, eine Lebens- und eine Stadtteilschule. Ein Forum Eltern-Lehrer-Schüler wurde sie, manche sagten auch ein FELS, der überall dort Widerstand bot, wo die Unbillen der Zeit allzu mächtig wurden; aber auch Schutz und Halt gewährte, wann immer dazu Anlass war. Denn Erziehung heißt ja nichts anderes als: Inne-halten und Halt-geben.

Um das etwas genauer auszuführen: Wir wollten erstens eine Familienschule sein, das heißt ein Mann und eine Frau haben sechs Jahre lang die Kinder in der S1-Stufe begleitet. Nicht nur deshalb, weil es so viele Single-Kinder gibt, so viele Broken-Home-Children, sondern weil man das Recht hat, Männlichkeit und Weiblichkeit erfahrbar zu machen. Deshalb gab es ein Lehrertandem: Ein Mann und eine Frau haben familienähnliche Strukturen und Erfahrungen vermittelt. Das fing bei uns an mit Tisch-decken bis hin zum Toilettentraining - ein Türke zum Beispiel macht sich etwas anders sauber als ein Deutscher.

Zweitens: eine Erziehungsschule. Erziehung, so haben wir Lehrer uns geeinigt, muss eine vitale Lust sein für Lehrer - und nicht aus der Überlegung heraus: Ich entschuldige mich bei dir, dass ich dich erziehen will. Wer dies unter Erziehung versteht, muss sich nicht wundern, wenn Erziehung völlig scheitert.

Drittens: Die EGG war eine Lebens- und Erfahrungsschule - das haben wir von der Laborschule gelernt. Leben, das heißt eine Ganztagsschule - und unsere Schule war häufig bis abends um 21.00 Uhr auf. Da ist mancher gekommen und hat nach dem Sport noch bei uns geduscht, denn zu Hause gab es keine Dusche. Und ein Platz zum Klönen war immer zu finden, ein Elterncafé auch. Also eine Schule, die sich begreift als ein Ort, wo man aufwachsen kann, wo man Erfahrungen macht und nicht nur Latein, Englisch, Mathe, Curricula curriculorum lernt. Eine solche Schule halte ich für anachronistisch; sie kann die humane Gesellschaft nicht schaffen. Sie zerstört die Zusammenhänge zwischen Schule und Gesellschaft.

Und schließlich waren wir eine Stadtteilschule: Mitten im Stadtteil Gelsenkirchen-Bismarck, mit all den sozialen Problemen. Eine Schule, in der jedes Kind, das in dem Stadtteil aufwächst, ein Recht hatte, auf die Evangelische Gesamtschule zu gehen.

Diese Elemente schienen uns eine richtige und vernünftige Basis für eine Schule, in der Humanität genauso eine Chance hat wie die Vermittlung von Wissen. In dieser Schule gab es Fremdheit in verschiedenen Bereichen: Kulturen waren sich einander fremd; manche Kinder hatten bis dahin nie ein anderes geschlechtliches Wesen erfahren; wir hatten Fremdheit im Bereich von Generationen, von Sprachen, Kulturen, Religionen zu überwinden. Aber: Wir waren uns einig, dass dies unter einer Bedingung geht, und deshalb lautet die fünfte These:

5. These: Nur so viel Gemeinsamkeit wie möglich und so viele Unterschiede wie notwendig tun uns gut!

In diesem schwankenden Modus hat die Schule sich begriffen. Wenn Sie sich den amerikanischen Dollar ansehen, da steht "in unum pluribus" drauf - genau dies ist damit gemeint: so viele Gemeinsamkeit wie möglich, und so viele Unterschiede wie notwendig, die tun der Schule gut. Man kann darüber diskutieren, wo das richtige Maß ist. Denn das ist in einer Schule in Berlin-Dahlem anders als in Gelsenkirchen-Bismarck. Das muss jede Schule vor Ort entscheiden. Das verstehe ich jedenfalls unter autonomer Schule und nicht das Verwalten von Etats, die immer kürzer werden. Deshalb das Tandemprinzip, die community education, ein Theater, ein Kino, eine Arena, eine Sozialstation ... und im Zentrum dieser kleinen Schulstadt eine Kapelle, die von allen Konfessionen genutzt wurde - auch vom Imam und den 30 Prozent türkischen Schülern. Denn selbstverständlich heißt Ganzheitlichkeit auch und gerade mit Differenzen produktiv umzugehen.

 

VI. Wie sollen sich Schulen und Familien arrangieren? Oder: Kooperation statt Konfrontation

Die Schule der Zukunft wird (bis auf wenige Ausnahmen) keine Halbtags-, sondern eine Ganztagsschule sein. Wichtig dabei ist, dass sie keinen verlängerten Mensabetrieb inszeniert und die vorhandenen Defizite vieler Familien bloß zu kompensieren unternimmt, sondern sich als familienunterstützende Schule, als supportive Ganztagsschule begreift. Ein Beispiel unter hunderten: Ohne Übertreibung wird man heute von einer nachlassenden Redekultur auch und gerade in unseren Schulen sprechen müssen - verständlich bei immer weniger Redekultur in den Patch-work-Familien, unter Single-Kindern und einer gigantischen Bilder-Flut. Lehrer, die zur Behebung dieses Dilemmas - sagen wir - einen Redestein herumgeben lassen oder bei Bedarf Gelegenheiten zur Pädagogischen Meditation einräumen, leisten eine wichtige kompensatorische Hilfe, bei der sie aber nicht stehen bleiben dürfen. Denn auf diese Weise verstärken sie die familiären Defizite. Erst wenn sie die Eltern mit einbeziehen (sie z.B. hospitieren lassen, einen Videofilm über ihre Bemühungen zeigen u.ä.m.), wird aus Kompensation Support: Unterstützung der familiären Aufgaben. Deshalb lautet meine letzte, die

 

6. These: Nicht die kompensatorische, sondern die supportive Ganztagsschule ist bekömmlich!


Der kompensatorische Ansatz ist deshalb falsch, weil er die Defizite der Familien verstärkt. Das heißt, ich übertreibe jetzt: Mutti sitzt bei Aldi an der Kasse, also muss die Ganztagsschule länger geöffnet sein als Aldi Schluss macht. Damit kompensiere ich eigentlich nur die Schäden, die die Familie hinterlässt und renne immer mit hechelnder Zunge hinter den Defiziten der Familie her. Ein solcher Ansatz landet letztlich im zirkulären Prozess der Zerstörung. Eine Ganztagsschule, die nur kompensiert - weil es zu Hause kein Mittagessen mehr gibt, muss der Elternverein das Mittagessen organisieren -, ist ein falscher Ansatz. Da entsteht keine Ganztagspädagogik, da entstehen immer nur Stopfungen von Löchern.

Wir hatten einen anderen Ansatz, und der ist mittlerweile bei vielen Bildungspolitikern und bei vielen Schulleitern angekommen. Wir nannten und nennen ihn den supportiven Ansatz: Die Schule unterstützt die Familie. Jedes Elterncafé, jedes Lernen von Schülern, die in einem Mutter-Schüler-Kurs das Falten von Servietten lernen und das Anrichten von muslimischer Kost; die lernen, wie man Ramadan feiert und was das Zuckerfest ist oder wie man Weihnachtsplätzchen backt - jede dieser Erfahrungen unterstützt eine familiäre Erziehung. Und jeder Vater, der bei uns einen Teich mit ausgehoben oder einen Spielplatz mit errichtet hat, unterstützt die Schule in ihren Belangen und verschlimmert nicht die Defizite der Familie.

Die Kooperation von Schule und Familie kann nur gelingen, wenn die vorhandenen Defizite - und manche Defizite darf man nicht verschweigen: es gibt Familien, die sind in großen Schwierigkeiten, manchmal verschuldet, manchmal weniger selbstverschuldet - langfristig behoben werden, wenn die Schule in einem supportiven Verhältnis zur Familie steht. Nur dann können Gesellschaften gedeihen.

Ein Beispiel für Kooperation: Unsere Arena, so nannten wir unsere Turnhalle, hat einen Patenschaftsvertrag mit Schalke 04 geschlossen. Einmal in der Woche kamen die Fußballer und trainierten dort. Dafür bekamen wir von Herrn Assauer (Manager von Schalke 04) einen Handball- und einen Fußballtrainer vermittelt, die eine AG leiteten. Und wir haben das in einem Partnerschaftsvertrag schriftlich festgelegt. Da waren nicht so sehr die Regeln wichtig, sondern der allererste Satz, der in diesem Vertrag stand, lautete: "Der Fußballverein Schalke 04 und die Evangelische Gesamtschule Gelsenkirchen wollen eintreten für die friedliche Koexistenz der verschiedenen Völker und Nationen und Kulturen." Das war wichtig. Entscheidend war und ist die Verzahnung zum Stadtteil, zur Familie, zur Kirche, zur Moschee, zu all diesen Institutionen.

 

Ein Wort zum Schluss unseres Streifzuges auf den Spuren einstiger und neuer Schulen, deren Spezifika erst zögerlich wahrgenommen werden, was mit der Grandiosität, aber auch dem Dilemma des Lernens zu tun hat: lernen kommt vom althochdeutschen Verb lîrnen, etwas verlieren. Altes muss verlassen, aufgegeben und doch in Erinnerung behalten werden, wenn Neues gesucht und gefunden werden soll. Dieses Bemühen erfordert viel Geduld, Gelassenheit und Optimismus. Ich wünsche uns, Ihnen und mir diese drei Tugenden. Welche die wichtigste ist? - wollen Sie, frei nach Paulus, wissen? Nun ja ... Das ist so ... Im Grunde ... Ach, darüber ein andermal mehr. D'accord?

* Überarbeitete Fassung eines gleichlautenden Vortrages, gehalten am 7.10.2005 bei der Fachtagung "Ganztagsschule - Vision Schule 2010" des Vereins für Soziale Arbeit und der Heinrich-Böll-Stiftung Hessen in Frankfurt am Main.

 

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