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ARCHIV 2006 - Februar 2014
Zusammenfassung
Bruno Piberhofer


Um eines gleich vorweg zu nehmen: Ein zentrales Ergebnis, eine erlösende Formel oder auch nur konsequente Schlussfolgerungen hat die Tagung nicht ergeben, außer der, dass Schule und Jugendhilfe voneinander lernen müssen und dass es gute Ansätze für die Reformierbarkeit bzw. für Reformen gibt.

Gerade wer hohe Ansprüche stellt, darf sich von der banalen Wirklichkeit nicht entmutigen lassen, hat doch die Diskussion über die Vision einer (Ganztages-) Schule 2010 schulpolitische, pädagogische, sozialpädagogische und gesellschaftliche Fragen aufgeworfen, die für das Schicksal der heute Geborenen bestimmend sein werden, und die in ihrer Tragweite weit über das "Tagespoltische" hinausgehen, aber sich offensichtlich gerade nicht in den ideologischen Grabenkämpfen des letzten großen Reformversuchs in den Siebzigern verstricken. Wenn Politik und Pädagogik nicht identisch sind, sondern einander nur in der Form bedingen, dass Politik - wie Prof. Winkel in seiner vierten These feststellt - nur die Voraussetzungen schaffe für gute Pädagogik und selbst keine Pädagogik betreiben dürfe, dann ist durch diese Nichteinflussnahme eine große Chance gegeben für eine funktionierende Ganztagesschule auf der Grundlage einer humanen Ganzheitlichkeit von Bildung und Erziehung. Eine Reform - und dies könnte man auch als Ergebnis der Tagung statuieren - ist ohne eine politisierte Pädagogik möglich, auch wenn unterschiedlichste Ansprüche formuliert werden. Offenbar hat auch die Politik erkannt, dass nur noch eine solche sich verändernde und öffnende "andere" Schule auf die Probleme der Gegenwart und der zukünftigen gesellschaftlichen Entwicklung angemessen reagieren kann. Wie wäre es sonst zu erklären, dass jene Länder, die die größte Durchlässigkeit im Schulsystem haben, zu den Spitzenreitern bei der PISA-Studie gehören.

In Finnland hat sich unter dem Motto "Harmonie und Ganzheit in den Schulen"' noch ein
erfrischender und erfinderischer Pragmatismus zur Notwendigkeit des Handelns gesellt. Das fängt an bei der gemeinsamen Unterrichtung aller Kinder der Klassen 1 bis 9 und der Übertragung der inhaltlichen und administrativen Verantwortung auf die Kommunen, geht weiter über einen Paradigmenwechsel in den Köpfen der Lehrer, deren regelmäßige Fortbildung, die Abschaffung der Schulinspektion durch die Schulinspektoren, die Einführung von Evaluierung und Qualitätsentwicklung und die positive "Diskriminierung" von Schulen, die in Problemregionen liegen, und endet nicht zuletzt bei der Aufwertung des Berufsstandes LehrerInnen in der Öffentlichkeit.

Ausgrenzen und Abschieben eines Schülers in einen anderen Schultyp geht in Finnland jedenfalls nicht mehr, zumal helfende KuratorInnen und SozialarbeiterInnen direkt in der Schule arbeiten und es nur noch wenige Sonderschulen gibt. Ein integratives Modell, das seit P1SA bekanntermaßen die Kultuswelt bis nach China interessiert, in dem der ideale Lehrer nicht so lange unterrichtet bis Dreigliedrigkeit hergestellt ist, sondern bis die Schüler den Stoff verstanden haben, und in dem niemand mehr dafür bezahlt wird, der ausrechnet, wie viele Lehrer einer Schule zustehen.


Was und wie viel mit neuen offenen pädagogischen und methodischen Konzepten machbar ist, hänge von dem Maß an Bewegung und Beweglichkeit ab, die Schule, Lehrerschaft und Institutionen zulassen sowie von der Lust aufs Lernen, wobei die Bereitschaft, die Lust am Lernen zu entdecken, laut Barbara Buchfeld in Deutschland nicht sonderlich ausgeprägt erscheint.

Es gehe anders als in einem Gymnasium in guter Lage in einer Brennpunkt-Schule darum, durch zahlreiche Rituale und wichtige Kleinigkeiten zunächst erst einmal menschliche Beziehungen, eine Atmosphäre der Würde und des gegenseitigen Respekts zwischen allen Beteiligten als Voraussetzung für Lust auf Lernen herzustellen und damit ein positives Gegenbeispiel zu den sozialen und familiären Verwerfungen im Stadtteil zu etablieren.

Sich gegenseitig zu fördern, die Schule als Gestaltungsraum anzunehmen und Verantwortung für das eigene Lernen zu übernehmen, Kritik anzunehmen, Überschaubarkeit herzustellen und Probleme im Stadtteil zu bearbeiten, ist laut Barbara Buchfeld zentral.

Auffälligerweise sind dies alles Maßnahmen, die in der 13 - Uhr Regelschule nur bedingt durchführbar sind, ganz zu schweigen davon, dass LehrerInnen gemeinsam mit auffälligen SchülerInnen in die Weihnachtsferien fahren. Glücklicherweise kann Ganztagsschule auf solche teils unkonventionelle Methoden, lange pädagogische Erfahrungen und außergewöhnliche Erfolge auch bei der Gemeinwesenorientierung und der Öffnung zum Stattteil zurückgreifen wie diejenigen in Kassel Waldau, ohne die Lernen zumindest für sozial benachteiligte Schüler nicht mehr zu bewältigen wäre, was nach einem späten Sieg der offenen Schulkonzepte klingt.

Doch schon einmal, bei der Diskussion um die Gesamtschulen, verknüpfte man deren Einrichtung mit modernen ganzheitlichen Konzepten. Das Scheitern derselben begründet Wolf Schwarz mit den überbordenden Erwartungen, die an sie gestellt wurden; und er ist der Meinung, dass die Ganztagsschule sicherlich scheitere, wenn man so weitermache wie bisher. Ganz pragmatisch benennt er als wichtigste Aufgabe einer Ganztagsschule die Betreuung, die in einem gewissen Konflikt zu bereits bestehen Betreuungskonzepten (z.B. denen der gut etablierten Horte in Frankfurt am Main) steht; als zweite Aufgabe nennt er mehr qualifizierte Bildungssahngebote am Nachmittag als zusätzliche Wissensvermittlung und als dritte Wertevermittlung und soziales Lernen.

Dass neben den Inhalten auch ganz konkrete Aufgaben auf die Kommunen zukommen wie die Bereitstellung von 9000 Mittagessen und der Bau von Räumlichkeiten, in denen diese eingenommen werden können, erläutert Michael Damian am Beispiel der Stadt Frankfurt am Main. Die 56 Schulen, die Ganztagesaktiviläten (offen oder gebunden) im nächsten Schutjahr anbieten wollen, die fünf "richtigen" Ganztagsschulen, Nachmittagsschulangebote, die freiwilligen, von 3 500 Kindern besuchten AGs, die Horte, die weiter in den Nachmittag hinein intensiviert werden sollen, die freien Träger der Jugendhilfe und die Aktivitäten der Schulvereine sowie die Angebote der Kirchen werden mit einer eigenen Stelle koordiniert. Das sei ein Ansatz, der zwar nicht die ideale Ganztagsschule verkörpert, aber als richtiger Weg dahin erscheint, wobei sich die wünschenswerte intensivere Verbindung zur Jugendhilfe als professionelle Dienstleister erst langsam etabliere. Das mag einerseits an der Dominanz der Schule als alles bestimmende und Regel gebende Institution liegen, andererseits an einer gewissen Konkurrenz zwischen "richtigen" LehrerInnen und nachmittags eingesetzten und schlechter bezahlten Kräften.


Als Positivum der Verzahnung von Stadtteil, Schule und Jugendhilfe benennt Sibylle von
Soden neben der Änderung der Blickrichtung in den Köpfen der LehrerInnen die einwöchige Erforschung der Einrichtungen des Stadtteils und der Stadt bei dem Projekt "Schwelle runter", hält aber die momentanen Strukturen in der Zusammenarbeit mit der Jugendhilfe für absolut unbrauchbar, da sie zu wenig fest verabredet und zu wenig kooperativ seien, und konkrete Betreuung und Förderung, Lernhilfe bzw. Lemhilfepläne unter Beteiligung aller im Stadtteil beteiligten Institutionen - der Eltern, der LehrerInnen und der SchülererInnen- nicht ermöglichten. Sie fordert eine gemeinsame Verantwortung für den Stadtteil, möchte aber, dass die Jugendhilfe mit ihren konkreten Angeboten für die Schule besser verfügbar ist.

Der Grund für diese unbefriedigende Situation wird von Hans-Georg Weigel in den
unterschiedlichen Systemlogiken zwischen Jugendhilfe und Schule ermittelt. Schule sei
ausgerichtet auf Integration und Teilhabe, während Jugendhilfe sich entlang des KJHG und seiner verschiedenen Abschnitte orientiere, die unterschiedlich kompatibel zum System Schule seien. Jugendförderung, Kindertageseinrichtungen, erzieherische Hilfen, freie Jugendarbeit gehorchten anderen Logiken als schulische Wissensvermittlung, und es stelle sich trotz der landauf und landab geführten Kooperationsdiskussion die ketzerische Frage, ob man beide Systeme nebeneinanderher laufen lassen kann, oder ob nicht Jugendhilfe längerfristig in das System der Schule integriert werden muss, wie das bereits in anderen Ländern Europas geschehen sei. Zumindest habe die Schule bisher nicht geübt, mit den Systemlogiken der Jugendhilfe zu kooperieren. Nur eine weitgehend verselbständigte Schule mit eigenem Budget hätte die Möglichkeit ihre Rahmenbedingungen mit den Trägem der Jugendarbeit selbst zu gestalten.

Schulen wie die freie Schule Frankfurt am Main haben da weniger Berührungsängste, da sie sich an ihrer Vision von einer guten und relativ autonomen Schuie orientieren, die Trägerschaft bei einem privaten Verein liegt und der pädagogische Kem des Konzeptes in der Selbstregulierung besteht, was bedeutet, dass Kinder den ganzen Tag in der Schule sind und sich mit dem beschäftigen, was sie interessiert. Das könne natürlich auch im Stadtteil oder im weiteren Umfeld stattfinden, und Kooperationen können selbständig dort eingegangen werden, wo sie für nötig und sinnvoll gehalten werden.


Warum interessiert sich z.B. die Grundschule nicht für den Kindergarten im Stadtteil und umgekehrt, wo es sich doch beim Übergang im Wesentlichen um dieselben Kinder handelt?

Scheinbar sind viele solcher Fragen, auch wenn z.B. im hessischen Bildungs- und Erziehungsplan praktisch alle Notwendigkeiten aufgezählt sind, nur über eine weitergehende Verselbständigung der einzelnen Schulen zu beantworten. Die Autonomie erscheint immer notwendiger und andererseits nur machbar ohne den Regelungs- und Steuerungsanspruch des Staates, der leicht zu einem überkomplexen Systemnetz führen kann. So standen sich bei der Diskussion auch letztlich zwei Positionen gegenüber: die "Regler und Koordinierer" auf der einen (Verwaltungs-) Seite und die "Praktiker" auf der anderen Seite, die eher die Kinder in den Mittelpunkt stellen und die große Bandbreite der möglichen Kooperationsformen von den individuellen Voraussetzungen der Zielgruppe und den lokalen Bedingungen abhängig machen wollen und den Betreuungsaspekt einer Ganztagsschule eher im Hintergrund sehen.

Mittagstisch alleine und hohe Investitionen an falschen Orten (z.B. für eine Cafeteria an einem Gymnasium) sei nicht das, was eine Ganztagsschule ausmache. Auch die unterentwickelte Kommunikationsbereitschaft bzw. der Mangel an tatsächlicher Kommunikation und Kooperation zwischen Kommune, Ministerien, Schulen und Jugendhilfe führe zu Parallelentwicklungen und einem Nebeneinander verschiedener Aktivitäten, die auch für die Zielgruppe kaum verständlich seien.

Bei den diskutierten Thesen und Themen wurden die unterschiedlichen Erwartungshaltungen von Seiten der Schule und von Seiten der Jugendhilfe entsprechend ihrer Tradition und Entwicklung deutlich, die dringend der Verständigung bedürfen: Auf Seiten der Schule die Orientierung an messbaren Lemzielen, der beamtete Corpsgeist, die professionelle Wissensvermittlung, die Einübung von Skills, die Selektion, die eher langsame Reaktion auf neue Technologien und veränderte gesellschaftliche Bedingungen und auf der Seite der Jugendhilfe das Ziel der individuellen Förderung von Kindern, das Auffangen von Devianzen, die Stärkung und Entfaltung der Persönlichkeit, die Einübung von Softskills, die Integration, die Vermittlung von Verhaltensformen, experimentierfreudige Methoden und das Erlernen der Kommunikation zwischen Jugendlichen und der Erwachsenenwelt als Förderung des Selbstlernprozesses, kurz gesagt der Widerspruch zwischen gesellschaftlichem Anspruch und der Förderung des Individuums bedürfen - und darin waren sich alle Beteiligten einig - einer stärkeren Verzahnung, nicht einer Subordinierung des einen unter das andere System.

Die Größe und die Position der Zähne werden im Moment noch in Veranstaltungen wie dieser, in Foren, Sensibilisierungen und auch Positionskämpfen neu verhandelt.

Doch wie bei jedem Beispiel aus der Welt der Mechanik hinkt der Vergleich: Nicht der geniale Konstrukteur bestimmt das Zusammenwirken der Rädchen, sondern alle Beteiligten vollziehen die Feinabstimmung selbst in einem notwendigen noch andauernden Kommunikationsprozess.

Vielleicht ist die Vision Peter Steins ein möglicher Schritt: Er wünscht sich für Frankfurt am Main ein Zusammenkommen von Politik, Pädagogik und Jugendhilfe in einem Raum, um in Muße zu überlegen, was in den einzelnen Stadtteilen und unterschiedlichen Schulformen mittels gegenseitiger Vereinbarungen und gemeinsamer Verantwortlichkeiten machbar erscheint - auch wenn dieser Runde Tisch etwas länger als einen ganzen Tag dauert.

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